Kopf hoch, Marcus!

Die Divisional-Playoffs der diesjährigen NFL-Saison haben uns einige Dinge wieder verinnerlichen lassen: Des einen Freud, ist des anderen Leid. In fast keinem anderen Sport liegt Sieg und Niederlage so eng beieinander, fast keinem anderen Sport kann man so leicht verfallen und ebenso schnell wieder verdammen.

Hätte er doch einfach nur getacklet. Einfach nur ganz solide, normal wie er es schon hunderttausende male gemacht hat – die New Orleans Saints wären vermutlich eine Runde weitergekommen und ins NFC Conference-Finale eingezogen. Marcus Williams tat das aber nicht. In einem Spielzug für die künftigen Geschichtsbücher, ließ er Vikings-Wide Receiver Stefon Diggs gewähren, verpasste den Tackle – wohl aus Angst vor einer möglichen Pass Interference und musste mit ansehen, wie seine erste NFL-Saison abrupt beendet wurde. Das unrühmliche Ende einer hervorragenden ersten Profi-Spielzeit.

Williams Interception zum Ende des dritten Viertels hat die unmögliche Aufholjagd der Saints erst überhaupt möglich gemacht: 17 Punkte lag man nach der ersten Halbzeit bereits im Rückstand, mit Williams’-Pick schien das Momentum endgültig in Richtung New Orleans’ zu kippen. Die Entscheidung der unfassbaren letzten fünfeinhalb Minuten kam sprichwörtlich mit dem Schlusspfiff und Diggs’ Touchdown bzw. Williams’ missed-Tackle.

Es ist leicht einen Spieler für Niederlagen verantwortlich zu machen: Man erinnere sich an Wes Welkers legendären Drop im Super Bowl XLVI gegen die New York Giants wenige Minuten vor Schluss, der wohl den Sieg der Patriots besiegelt hätte. Oder an jedes vergebene Field Goal von Kickern, die den Erfolg nicht möglich machten. Man wird in den kommenden Jahren neben Welker oder Blair Walsh auch oft die Aktion von Marcus Williams anführen, zu offensichtlich und leicht ist es, für den gemeinen Fan den Schuldigen ausfindig zu machen.

Dabei ist es für niemanden nachvollziehbar, wie es ist, ein NFL-Spieler zu sein. Williams erhält im Social-Media-Zeitalter vermutlich hunderttausende Nachrichten auf unterschiedlichen Kommunikationsplattformen. Die negativen Kommentare überwiegen natürlich: “Wie viel Geld bekommst du für den missed-Tackle?”, “Such dir einen neuen Verein”, “Die größte Schande der letzten Jahre” usw. Die restlichen wollen den Spieler aufbauen und gestehen ihm Fehler zu. Ein löbliches und notwendiges Unterfangen.

Denn – und das wird ohnehin ständig betont – Williams ist immer noch Rookie. Ein Spieler also, der in diesem Jahr den Sprung in die NFL schaffte, ein Spieler, der seinen Traum leben kann und somit zum Bruchteil aller träumenden Football-Fans zählt. Williams hat eine überdurchschnittlich starke erste Saison hinter sich, konnte zusammen mit seinem Rookie-Kollegen Marshon Lattimore die chronisch schwache Defensive der Saints endlich wieder konkurrenzfähig machen.

Ein Footballspiel gewinnt man nicht allein. Kein Quarterback kann allein ein Spiel entscheiden, auch wenn das medial gerne inszeniert wird. Weder Aaron Rodgers noch Tom Brady können das, Joe Montana oder Bart Starr konnten das ebenso wenig wie Dan Marino oder Johnny Unitas. Nicht einmal Marcus Mariota schafft das, auch wenn er in der vergangenen Woche gegen die Kansas City Chiefs vermutlich am nächsten von allen genannten war. Ein Quarterback braucht einen Receiver der den Ball fängt. Ein Receiver einen Quarterback, der ihm den Ball zu wirft. Ein Runningback einen Spielmacher der ihm den Ball gibt und eine Line die ihm Räume verschafft. Ein Defensive braucht eine Offensive die punktet, eine Offensive braucht eine Defensive die nichts zulässt und starke Special Teams. Ein Kicker braucht eine gute Feldposition um das Ei verwandeln zu können, ein Returner gute Blocks – egal ob bei Punt oder Pick. Der eine Spieler braucht die restlichen 52 um erfolgreich sein zu können. Das unterscheidet Football von vielen Sportarten – egal wie gut Tom Brady und Co. sind – alleine geht nichts. LeBron James, Lionel Messi oder Sidney Crosby können sich selbst die Kugel schnappen und für die Entscheidung sorgen, im Football verhindert das die Struktur des Sports.

Viel leichter kann man aber ein Footballspiel alleine verlieren. Interceptions, Fumbles, muffed Punts – also jegliche Form von Ballverlust – gedroppte Bälle, Black-Outs in der Regelkunde, der berühmte Tag an dem nichts laufen will oder eben falsch gesetzt Tackles können Spiele entscheiden. Einen Fehler begeht man leichter, als man großes schaffen kann. Aber man lernt ja bekanntlich aus Fehlern am meisten. Dennoch wäre es auch zu einfach die Schuld immer nur bei einem Spieler zu suchen.

Williams hat jetzt, wie auch seine 52 Mannschaftskollegen und alle Trainer, Urlaub. Es sollte der erste Urlaub in seinem Leben sein, den er wirklich genießen kann. Der erste Urlaub, die erste Freizeit seiner Football-Karriere. Kein ständiges Nachdenken über die Zukunft, über mögliche Verletzungen die ihn den Traum von der Profi-Karriere kosten könnten. Kein ständiger Druck, noch weiter und besser sein zu müssen, um am Ende auch in den erlauchten Kreis der wenigen Spieler zu kommen, die sich tatsächlich in der NFL wiederfinden. Es sollte der erste Urlaub seines Lebens werden, indem er sich einfach entspannen kann und wahrlich die Füße in die Höhe strecken kann. Nichts tun.

Aus dem allen wird erstmal nichts werden. Auch wenn er eine gesicherte Zukunft hat, ein festes Team gefunden und einen langjährigen gesicherten Vertrag unterschrieben hat, wird er gedanklich nicht abschalten können. Die Internet-Schelte und Häme wird ihn verfolgen, vermutlich länger als man das glauben möchte. Anstatt wirklich zu entspannen und auf das Erreichte Stolz zu sein, dürfte ihn das Play – das nebenbei grausam designed war (wer lässt prinzipiell einen Safety gegen das Top-Target allein verteidigen) – lange verfolgen. Und das ist unglaublich bitter wenn man bedenkt, dass Williams bis zehn Sekunden vor Schluss einer der absoluten Helden des Spiels und der gesamten Saison war. Anstatt der Interception – dem Höhepunkt seiner Karriere – wird er nun ständig an den Tiefpunkt erinnert.

Das ist Football. Ein Sport der den normalen Zuschauer wegen solchen Spielen wie gestern zum Liebhaber werden lässt. Ein Sport in der binnen weniger Sekunden alles passieren kann. Ein Sport den man jetzt gerade liebt und in wenigen Augenblicken hasst. Ein Sport der von 53 Menschen gespielt wird und von Schach-Passionisten dirigiert wird. Ein Sport der seine (tragischen) Helden schreibt. Marcus Williams gehört für’s erste definitiv zu dieser Gruppe.

Ersten Kommentar schreiben

Antworten

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.


*


*